Marxismus und Tierbefreiung – Thesen

Das Bündnis Marxismus und Tierbefreiung hat ein Thesenpapier verfasst, das begründet, warum marxistische Analyse und Politik sowie das Anliegen der Tierbefreiungsbewegung zusammengehören und warum sich beide Lager, die bislang nur wenige Berührungspunkte haben und einander z.T. mit einiger Skepsis begegnen, für ein revolutionäres Projekt zusammentun müssen. Der Text beruht auf zahlreichen Diskussionen mit Genossinnen und Genossen sowohl der Tierbefreiungsbewegung wie auch der sozialistisch-kommunistischen Linken. Er ist auch in gedruckter Form als Broschüre erhältlich und kann über das Bündnis bezogen werden. Für Kritik, Anfragen oder den Bezug der Broschüre kann das Bündnis gerne via Facebook als auch per Mail (mutb [at] riseup.net) kontaktiert werden.

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MARXISMUS UND TIERBEFREIUNG

Der Marxismus und die Befreiung der Tiere – auf den ersten Blick zwei Dinge, die kaum etwas miteinander zu tun haben. Schließlich hat weder ersterer durch seine Tierliebe von sich reden gemacht, noch sind die Tierfreunde dafür bekannt, sich die Befreiung der Arbeiterklasse und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft auf die Fahnen geschrieben zu haben.

Ganz im Gegenteil: Mit dem klassischen Marxismus können die mehrheitlich autonom-anarchistisch geprägten Tierbefreiungsaktivisten nicht viel anfangen; er gilt als theoretisch unterkomplex und autoritäre Ideologie, die sich mit dem Ende des Realsozialismus erledigt hat.

Zwar kommen Kapitalismuskritik und das Vokabular der Arbeiterbewegung („Genosse“, „Klasse“) in der linksradikalen Szene wieder vermehrt in Mode, aber so richtig kann man mit den traditionellen Marxisten trotzdem nichts anfangen. Sie sind als notorische Tierhasser verschrien, die nur von Ökonomie reden und oft kaum von kleinbürgerlichen Bratwurst-Spießern zu unterscheiden sind.

Bei den Marxisten wiederum stehen die Tierbefreiungsaktivisten nicht hoch im Kurs: Sie werden oft als spleenige Kostverächter und bürgerliche Moralisten gesehen, die an unwichtigen Nebensächlichkeiten herumdoktern, anstatt sich den zentralen Fragen zu widmen. Bei klassenkämpferischen Aktionen und Bündnissen sollen sie sich zwar beteiligen, aber mit ihrem „Tierfimmel“ kann und will man nichts anfangen. Das Ziel einer Gesellschaft, in der Mensch und Tier von Ausbeutung und Unterdrückung befreit sind, treibt vielen Genossen den Angstschweiß auf die Stirn, weil das den Verlust von Wurst und Käse bedeuten würde. Und außerdem hat sich ja schon Friedrich Engels über die „Herrn Vegetarianer“ lustig gemacht, die die Bedeutung des Fleischverzehrs für die menschliche Zivilisationsgeschichte verkannten und es bestenfalls zu utopischen Sozialisten bringen konnten.

Wir denken entgegen dieser Frontstellung, dass die von Karl Marx und Friedrich Engels begründete historisch-materialistische Gesellschaftsanalyse und -kritik, die darauf gründende Politik und die Forderung, die Tiere von gesellschaftlich produziertem Leid zu befreien, notwendig zusammengehören. Denn einerseits ist die Forderung nach einer Befreiung der Tiere tatsächlich moralistisch, wenn sie sich nicht die Frage stellt, unter welchen historisch spezifischen Bedingungen die Ausbeutung der Tiere eigentlich stattfindet und was entsprechend gesellschaftlich verändert werden muss, um sie zu beenden. Und andererseits ist jede marxistische Gesellschaftskritik unvollständig, die nicht zur Kenntnis nimmt, dass in der Geschichte der Klassenkämpfe die herrschenden Klassen nicht nur die ausgebeuteten Klassen, sondern stets auch die Tiere (und die Natur) zu ihrem Vorteil exploitiert und unterdrückt haben.

Zwar haben sich die Ausbeutung der Lohnabhängigen einerseits und der Tiere andererseits historisch qualitativ unterschiedlich entwickelt, und ihre Stellung zu den Produktionsmitteln unterscheidet sich auch heute. Bei allen Unterschieden haben die Arbeiterklasse und die Tiere aber eine gemeinsame Geschichte, in der sie der herrschenden Klasse als Leidende, Erniedrigte, Geknechtete und Verlassene gemeinsam antagonistisch gegenüberstehen. Die einen als Subjekte-, die anderen als Objekte der Befreiung. Wir meinen also: Der Tierbefreiungsgedanke bleibt inkonsequent, wenn er sich der historisch-materialistischen Kritik der Gesellschaft versperrt. Genauso bleibt jedoch der Marxismus inkonsequent, wenn er sich weigert anzuerkennen, dass die Befreiung der Tiere heute zu marxistischer Theorie und Politik dazugehören muss. Erstens macht der gegenwärtige Stand der Produktivkraftentwicklung sie nicht nur möglich, sondern auch notwendig. Wer eine Gesellschaft ohne Ausbeutung, Herrschaft und objektiv sozial produziertes und vermeidbares Leiden schaffen will, ist zweitens gezwungen, auch das Leid der Tiere anzuerkennen und dessen Abschaffung anzustreben. In der Geschichte der Linken und der Arbeiterbewegung hat es vereinzelt schon Ansätze gegeben, Marxismus und Tierbefreiung zu vereinen. Sie haben sich aber bislang nicht durchgesetzt. Die folgenden Thesen sollen begründen, warum Marxisten und Tierbefreier keine Zwangsehe, sondern einen Bund fürs Leben schließen sollten.

WARUM DER ANTISPEZIESISMUS MARXISTISCH SEIN MUSS

I.

Die moderne, kapitalistisch organisierte Gesellschaft kennt Tiere nur als materielle Träger von Wert und als Produktionsmittel des Kapitals, als Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand, die ihr – sofern noch keine menschliche Arbeitskraft verausgabt wurde, um sie nutzbar zu machen – gratis von der Natur geliefert werden.

Die Unternehmer der Fleischindustrie, dem Herz des Tierausbeutungskomplexes, verdienen Milliarden mit der Tötung von Lebewesen. Mit der Schlachtung von jährlich über 60 Millionen Schweinen, 3,5 Millionen Rindern und 700 Millionen Hühnern, Enten und Gänsen werden allein in der Bundesrepublik Deutschland Rekordumsätze von bis zu 40 Milliarden Euro pro Jahr erzielt. Selbst in der Schweiz belaufen sich die Umsätze auf 10 Milliarden Franken. In Zirkussen und Zoos werden „exotische“ Tiere unter in der Regel katastrophalen

Bedingungen gehalten, um quälende, stumpfsinnige Show-Einlagen aufzuführen. Bei Jagden werden sie zur Belustigung der meist wohlhabenden Waidmänner über
den Haufen geschossen. Bei Tierversuchen müssen sie als Forschungs- und Arbeitsgegenstand herhalten, und von der Haustier-Industrie werden sie überzüchtet und als Spielzeug verramscht. Diese Verhältnisse sind schauerlich und brutal und wer kein völlig entfremdetes Verhältnis zu seiner Umwelt hat, empfindet zumindest ansatzweise Mitleid mit den fühlenden Lebewesen.

Am Beginn des Engagements für das Ende der Tierausbeutung steht entsprechend oft die schlichte moralische Erschütterung über das massenhafte Töten und die ideologische Geringschätzung der Tiere sowie der solidarische Impuls, sowohl eine Erklärung für Tierausbeutung als auch einen Weg zu ihrer Abschaffung zu finden. Aus der Anteilnahme an dem Leiden der Tiere erwachsen die theoretische Reflexion über das Verhältnis von Mensch und Tier und der Antrieb zur praktischen Arbeit für die Befreiung der Tiere. Aber wie sieht das konkret aus? Werfen wir einen Blick auf die Theorie und Praxis der gegenwärtigen Tierbefreiungsbewegung.

II.

Innerhalb der deutschsprachigen Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung dominiert heute – grob zusammengefasst – eine politisch-theoretische Strömung, die der marxistische Philosoph Marco Maurizi als „metaphysischen Antispeziesismus“ bezeichnet hat. Diese gliedert sich in drei Haupttendenzen:

Die bürgerliche antispeziesistische Moralphilosophie ist in vielen Vereinen und Initiativen, wie beispielsweise PETA, vorherrschend, die politische Forderungen nach Tierrechten und Tierschutz erheben und dabei mittels Unterschriftenlisten, Lobbying, Kampagnen, Expertenberatungen usw. an Konsumenten, den Staat und an private Institutionen appellieren.

Die liberalen Rechtskritiker bilden theoretisch und politisch die Brücke zwischen den Moralphilosophen und den Herrschaftskritikern. Je nach Auslegung und theoretischen Verwandtschaften stehen sie einem der beiden Lager näher. Dies erklärt auch zum Teil den in der Tierschutz-, Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung breiten Konsens darüber, dass Tierrechte ein anzustrebendes Ziel sind.

Die linksliberale poststrukturalistisch-antispeziesistische Herrschaftskritik tritt politisch in Formen der autonom bzw. anarchistisch inspirierten außerparlamentarischen Linken in Erscheinung. Dieser autonome Antispeziesimus stellt den Kern des abolotionistischen Flügels der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung.

III.

Die bürgerliche antispeziesistische Moralphilosophie geht der Frage nach, warum zwischen dem Leiden der Tiere und dem der Menschen Unterschiede gemacht werden, oder genauer: Warum aus solchen Unterschieden moralische Handlungsanleitungen abgeleitet werden.

Sie betrachtet dafür die gängigen Rechtfertigungen für das Töten und Benutzen von Tieren – also z.B.: Tiere seien unvernünftig und könnten nicht denken, tierisches Leid sei anders und weniger gravierend als menschliches Leid, und so weiter – und legt innere Widersprüche der Argumente für das Töten und die Nutzung von Tieren offen: So können wir bspw. nicht von allen Tieren behaupten, sie seien nicht des Denkens fähig, und andersherum sind nicht alle Menschen (aller Altersstufen etc.) gleichermaßen vernunftbegabt. Zudem sind auch innerhalb des menschlichen Kollektivs die Formen des Leidens so unterschiedlich, dass wir kaum von dem menschlichen Leiden sprechen können, dass dem tierischen Leiden gegenüber stünde. Aus derlei Widerlegungen schlussfolgert die antispeziesistische Moralphilosophie, dass es keine konsequent vertretbaren Gründe gebe, moralisch relevante Unterschiede zwischen menschlichem und tierischem Leid zu machen. Sie fragt sich, warum dieser Unterschied in der Praxis dennoch gemacht wird. Ihre Antwort: Weil die menschliche Gesellschaft vom Speziesismus, also der ideologischen Vorstellung einer Höherwertigkeit der menschlichen Gattung, durchdrungen sei. Analog zum Rassismus oder Sexismus ziehe der Speziesismus normative Grenzen, die eigentlich nicht gerechtfertigt werden könnten und ohne wirkliche Grundlage seien. Es sei, wie es Singer ausdrückt, der Speziesismus, definiert als „ein Vorurteil oder eine Haltung der Voreingenommenheit zugunsten der Interessen der Mitglieder der eigenen Spezies und gegen die Interessen der Mitglieder anderer Spezies“, aufgrund dessen die Tiere „diskriminiert“ werden.

Die Verdienste einer solchen Moralphilosophie liegen in der kritischen Konfrontation speziesistischer Ideologie mit ihren eigenen unhaltbaren Annahmen. Dennoch weist sie zahlreiche Probleme auf: Denn sie erklärt genau genommen gar nicht, warum die Tiere ausgebeutet, warum sie zum Gegenstand ökonomischer Verwertung gemacht werden; sie erklärt vielmehr, wie innerhalb der gegebenen Verhältnisse legitimiert und verschleiert wird, dass mit Tieren anders verfahren wird als mit Menschen. Das ist ein bedeutender Unterschied. Diese bürgerliche Moralphilosophie kann uns z.B. also sagen, welche Denkformen begründen, warum Menschen in Schlachthäusern nicht umgebracht werden und warum das Schlachten im Falle der Tiere nicht unterlassen wird. Aber über Ursprung und Funktion der Tierausbeutung bzw. konkret des Schlachthauses als industriell betriebenen Großbetrieb und darüber, zu welchem Zweck die Tiere darin umgebracht werden, kann sie nichts Substanzielles beitragen. Sie reduziert all diese Fragen auf abstrahierte, individuelle Akte, Ansichten und Verhaltensweisen, die völlig losgelöst vom Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft betrachtet werden. Dabei ist diese bürgerliche Moralphilosophie außerdem unhistorisch: Ihr Gegenstand ist die speziesistische Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft im Hier und Jetzt. Die Geschichte des Mensch-Tier-Verhältnisses interessiert sie höchstens ideologiegeschichtlich; über den gesellschaftlichen Ursprung und die Genese speziesistischer Ideologie kann sie uns nichts sagen.

IV.

Die liberale Tierrechtstheorie versucht vor allem zu erklären, warum Tiere im Vergleich zu Menschen keine bürgerlichen Rechte besitzen, weshalb sie nur als Rechtsobjekte, nicht aber als Rechtssubjekte behandelt werden. Im Wesentlichen ist ihre Antwort tautologisch: Weil Tiere von Rechts wegen als Eigentum definiert werden. Weil die Tiere normativ als Eigentum des Menschen bestimmt würden, hätten die nichtmenschlichen Kreaturen bei jedem ernsthaften Interessenkonflikt zwischen den Spezies das Nachsehen. Entsprechend ebne der Eigentumsstatus der institutionalisierten Ausbeutung der Tiere den Weg. Das komplementäre Problem in diesem Zusammenhang sei die Abwesenheit, je nach politisch-wissenschaftlicher Lesart, negativer oder positiver Grundrechte für Tiere analog zu den Menschenrechten. Letztlich liege dem geltenden Recht ein moralisches Vorurteil zugrunde, das die Menschen gegenüber den Tieren ebenso privilegiere wie es einst Weiße gegenüber schwarzen Sklaven begünstigt habe. Die Rechtstheorie schließe Tiere per definitionem davon aus, Rechtssubjekte sein zu können.

Die Kritik des juristischen Faktums, dass Tiere de facto rechtlich „Sachen“ und/oder „Eigentum“ von natürlichen oder juristischen Personen sind, hat zwar bis heute ihre Validität nicht eingebüßt. Dennoch erklären die Rechtsnormen sich weder von selber noch begründen sie oder die Rechtstheorie die Ausbeutung der Tiere. Tiere sind nicht bloß Privateigentum, weil es im Gesetz steht oder weil sich Rechtsgelehrte das so vorstellen. Das Privateigentum (an Produktionsmitteln) ist Gesetz, weil das Gesetz rechtlicher Ausdruck der bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse ist. Die herrschende Klasse hat im Klassenkampf die Natur im Allgemeinen und die Tiere im Besonderen zu von ihnen nutzbaren Produktionsmitteln degradiert und dies juristisch festgeschrieben und als universell gültig erklärt. Deswegen ist es heute für die Menschen legal, die Tiere als ihr Eigentum zu behandeln. Die Rechtsnormen erlauben die Ausbeutung der Tiere, weil sie bürgerlich, nicht bloß weil sie speziesistisch sind.

Trotz der ihren Positionen immanenten legalistischen und antispeziesistischen Mystifizierungen haben die Tierrechtstheoretiker aber auch punktuell dazu beigetragen, den analytischen Blick zu schärfen. Insbesondere der Nachweis, dass der juristische Status quo eine effizientere ökonomische Verwertung der Tiere ermöglicht und die zivilgesellschaftliche politische Zustimmung zu ihr erhöht – das real existierende Tierschutzrecht die Ausbeutung und Unterdrückung der Tiere also nicht verhindert, sondern sie absichert –, gehört zu den unwiderruflichen Errungenschaften der antispeziesistischen Rechtskritik.

Umso schwerer wiegt, dass die Tierrechtstheorie den bürgerlichen Staats- und Rechtsillusionen verfallen ist. Sie kappen den Zusammenhang zwischen der kapitalistischen Ökonomie einerseits und den bürgerlichen Staats- und Rechtsformen andererseits und propagieren letztere sogar als positiven Bezugsrahmen für progressive Politik. Zwar ist es legitim, sofern möglich, staatliche Institutionen und Recht als Instrumente im Kampf gegen die Tierindustrie zu nutzen. Doch die Forderung, Tiere zu Bürgern oder ähnlichen Rechtssubjekten zu machen, ist ideologisch. Erst recht vor dem Hintergrund, dass Staat und Recht schon unter Menschen keinesfalls Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit garantieren, sondern sie unterminieren.

V.

Die poststrukturalistisch-antispeziesistische Herrschaftskritik geht im Prinzip genauso wie die bürgerliche Moralphilosophie vor, aber sie radikalisiert die ethische Betrachtung des Mensch-Tier-Verhältnisses und fragt vor allem danach, wie „das Tier“ als gesellschaftliches Konstrukt etwa durch religiöse, literarische, journalistische und durch natur- und sozialwissenschaftliche Publikationen – von der Bibel über Descartes bis zu Kant – in die Welt gekommen ist und ständig reproduziert wird. Speziesismus, so der Tenor, sei das Ergebnis einer dualistischen Konstruktion von Gesellschaft und Natur, „dem großen abendländischen Diskurs“ (Coetzee) von Mensch und Tier. Während „der Gesellschaft“ dabei all jene Eigenschaften zugeschrieben würden, die dem menschlichen Zivilisationsprozess in irgendeiner Form förderlich waren – Vernunft, Wissenschaftlichkeit, Wille, Rationalität usw. –, werde die Seite „der Natur“ mit alledem konnotiert, das in diesem Prozess verdrängt und zurückgelassen wurde – Spiritualität, Triebhaftigkeit, Affektivität, Magie usw. Diese dualistische Konstruktion setze sich im Verhältnis von Mensch und Tier fort: Der Mensch werde als das vernunftbegabte, rationale und kalkulierende Subjekt konstruiert, das sich vom Tier als unvernünftigem, affekt- und triebgesteuertem Naturwesen abhebe. Dieser Dualismus ist für die poststrukturalistisch-antispeziesistische Herrschaftskritik die Basis, um die politische Herrschaft von Menschen über Tiere, die Verfügung über sie sowie ihren Ausschluss aus der Demokratie zu erklären.

In der Vorgehensweise unterscheidet sich dieser Ansatz kaum von jenem herrschaftskritischer Feministen oder Antirassisten, die in ähnlicher Form sexistische oder rassistische Praxis begründen. Sexismus existiere demnach, weil „die Frau“ als schutzbedürftiges und affektgetriebenes Gefühlswesen konstruiert werde, „der Mann“ hingegen als rationaler, willens- und durchsetzungsstarker „kühler Kopf“; und die Wurzel des Rassismus sei die Konstruktion „des Anderen“, etwa als primitiv abgewertete „Völker“ oder Religionen, denen die westlichen, überlegenen Nationen gegenüber stünden.

Die Radikalität der antispeziesistischen Herrschaftskritik besteht darin, dass sie die Dualität aufzeigt, die der speziesistischen Ideologie innewohnt, sie als Instrument politischer Herrschaft benennt und dabei keinen Grund sieht, den Kampf gegen nur eine Ideologie für bedeutsamer als die Kämpfe gegen die anderen Ideologien auszugeben. Die autonomen Antispeziesisten richten sich darum gegen Tierausbeutung gleichermaßen wie auch gegen Sexismus, Rassismus, Homophobie und andere gesellschaftliche Ausschlussmechanismen, die das Versprechen auf bürgerliche Emanzipation Lügen strafen. Darum erfreut sich der Unity-of-Opression-Ansatz – in seiner heutigen Form als Intersektionalitäts- oder Total-Liberation-Ansatz – unter ihnen auch so großer Beliebtheit.

Rein analytisch gesehen sind viele Beobachtungen des herrschaftskritischen Antispeziesismus richtig. Das Problem: Sie liefern damit ebenfalls bloß eine Beschreibung der dominanten Diskurse über das Mensch-Tier-Verhältnis und andere Unterdrückungsverhältnisse, nicht aber einen Ansatz zur Erklärung, warum das Mensch-Tier-Verhältnis so ist, wie es ist, und warum der kritisierte Diskurs der vorherrschende ist. Die poststrukturalistisch-antispeziesistische Herrschaftskritik kann zwar deutlich herausarbeiten, wie der Mensch-Tier-Dualismus in der bürgerlichen Ideologie beschaffen ist, wie er als eine ideologische Denkform in Diskursen vorhanden ist, auf die rekurriert wird; den Ursprung dieser Ideologie oder ihre Funktion herleiten kann sie aber nicht. Sie bietet keine Erklärung, was genau den ideologischen Dualismus von Mensch und Tier eigentlich erzeugt und was ihn vermittelt. Immer dann, wenn die herrschaftskritischen Antispeziesisten auf diesen Punkt zu sprechen kommen, wird die Analyse schwammig. Sie bleibt darum phänomenologisch, letztlich rein formal und vor allem idealistisch, weil sie bloß das (falsche) Denken als Motor der Geschichte versteht. Mehr noch: Der Unity-of- Oppression-Ansatz verwechselt die Frage nach dem qualitativen Zusammenhang verschiedener Unterdrückungsformen und ihrer Entstehung mit ihrer politisch-normativen Bewertung. Er ist letztendlich lediglich zu tautologischen Erklärungsmustern fähig: Der Speziesismus entspringe aus dem speziesistischen Diskurs. Historisch-materialistische Theorien werden meist tabuisiert. Die Frage nach dem inneren und funktionalen Zusammenhang etwa von bürgerlichen Produktionsverhältnissen und rassistischer Ideologie wird mit der Frage verwechselt, ob der Kapitalismus als Unterdrückungsverhältnis normativ schlimmer oder wichtiger sei als Rassismus – oder umgekehrt, und so wird mitunter schon der Versuch der Analyse abgelehnt.

VI.

Wir können also festhalten: Sowohl die antispeziesistische Moralphilosophie als auch ihre radikalisierte Version, die antispeziesistische Herrschaftskritik, und die liberale Rechtskritik haben keine brauchbaren Erklärungen für die Ausbeutung der Tiere sowie deren ideologische Verschleierung parat. Sie können speziesistische Ideologie und Rechtsnormen detailliert beschreiben, die Parallelen und Gemeinsamkeiten mit anderen ähnlich strukturierten Ideologien und Normen benennen und auch die inneren Widersprüche dieser Ideologie und der Rechte herausstellen. Sie können uns jedoch nicht sagen, wie das ideologische Denken über Tiere oder ihr Eigentumsstatus in die Welt gekommen sind und warum Tierausbeutung in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gerade die hoch technologische, industrialisierte Form angenommen hat, die sie gegenwärtig hat. Kurzum: sie helfen nicht zu verstehen, warum, in wessen Interesse und wie genau Tiere in der kapitalistischen Gesellschaft ausgebeutet werden.

Diese Mängel der Theorie haben unmittelbare Konsequenzen für die politische Praxis: Alle drei Ansätze befassen sich ausschließlich mit der inneren Funktionsweise des speziesistischen Denkens. Darum erscheint diesen Ansätzen nicht nur jede Form der Tierausbeutung als Ergebnis eines verblendeten speziesistischen Bewusstseins, sondern auch die auf die Befreiung der Tiere gerichtete politische Praxis ist für sie dann primär eine Frage des richtigen Denkens, der moralischen Haltung und der Rechtsnormen. Der Freundeskreis, der Schlachter, der Wurstfabrikant, das Tierversuchslabor und seine Lobbyisten – sie alle müssen demnach ihr speziesistisches Denken ablegen, damit die Tiere befreit werden können. Gesellschaftliche Praxis ist hier vor allem eine Frage des gesellschaftlichen Bewusstseins, das sich aus dem Bewusstsein der einzelnen Individuen summarisch zusammensetzt. Tierausbeutung und Tierbefreiung werden auf ein philosophisches, epistemologisches, bestenfalls rechtstheoretisches Problem reduziert. Dass und warum jene, die von Tierausbeutung profitieren, ein handfestes Interesse daran haben, die Ausbeutung der Tiere in ihrer jetzigen Form aufrecht zu erhalten, das können die Moralphilosophen, Rechtstheoretiker und herrschaftskritischen Antispeziesisten nicht wirklich erklären.

VII.

Genau hier kommt der Marxismus ins Spiel. Die frühen Schriften von Marx und Engels behandeln das Verhältnis von Sein und Bewusstsein, von Natur und Gesellschaft, und auch von Mensch und Tier. Sie stellen sich die Frage, wie historisch spezifische Formen von Erkenntnis und Bewusstsein mit der Art und Weise, wie die Gesellschaft organisiert ist, zusammenhängen – also die Frage nach dem vermittelnden Moment von Sein und Bewusstsein. Ihre Antwort, grob vereinfacht: Durch gesellschaftliche Arbeit in jeweils historisch spezifischen Produktionsverhältnissen produzieren die Menschen mit ihrer materiellen Existenz sowohl ihr eigenes Bewusstsein als auch die Bedingungen, unter denen sich dieses Bewusstsein verändern kann und auch verändern muss. Es ist die gesellschaftliche Arbeit, d.h. die tätige Veränderung der jeweils vorgefundenen Verhältnisse, die sowohl die Natur und die Funktionsweise der Gesellschaft umgestaltet, als auch die Grundlage für das Bewusstsein von der Natur und den Verhältnissen schafft. Marx und Engels sagen uns also: Wir müssen uns das ansehen, was den vermeintlichen Dualismus von Sein und Bewusstsein, von Gesellschaft und Natur hervorbringt, was ihn vermittelt und verändert, was den inneren Zusammenhang von Mensch, Gesellschaft und Natur ausmacht – und dieses Etwas ist die gesellschaftliche Arbeit in ihrer jeweiligen historisch spezifischen Form. Der Widerspruch von Gesellschaft einerseits und Tieren und Natur andererseits entsteht demnach nicht bloß im Denken: Der Kapitalismus als eine historisch spezifische Form der Organisation gesellschaftlicher Arbeit produziert diesen Gegensatz ständig aufs Neue: Im kapitalistischen Produktionsprozess werden Tiere und Natur ganz praktisch zum bloßen Verwertungsmaterial.

Diese Sichtweise auf das Verhältnis von Mensch, Gesellschaft und Natur ist historisch-materialistisch. Es ist eine materialistische Sicht, weil sie das gesellschaftliche Sein als Grundlage für das Bewusstsein annimmt; ihr Materialismus ist aber historisch, weil er das Sein nicht für etwas Starres und Unveränderliches hält, sondern darunter das jeweils von den Menschen selber und gesellschaftlich produzierte Sein versteht. Es gibt auch einen unhistorischen Materialismus, von dem sich Marx und Engels scharf abgrenzen. Zwischen Sein und Bewusstsein handelt es sich dabei nicht um ein deterministisches Verhältnis im Sinne eines einfachen Schematismus, wie Engels hervorhebt: „Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten [...] als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt.“

VIII.

Wenn wir die Ausbeutung der Tiere erklären, kritisieren und abschaffen wollen, anstatt uns ausschließlich mit den Mustern ihrer Legitimation zu beschäftigen, müssen wir auf das Werkzeug des historischen Materialismus zurückgreifen.

Marx und Engels zeigen in Die deutsche Ideologie, einem der wichtigsten Texte für dieses Unterfangen, wie sich der Mensch Schritt für Schritt aus der Natur herausarbeitet, indem er sowohl die innere als auch die äußere Natur zurückdrängt, sie benutzen und zu unterwerfen lernt, und so den Unterschied zwischen Natur und Gesellschaft selber produziert. Der Mensch produziert und domestiziert sich also selbst, indem er durch Arbeit die äußere und seine innere Natur beherrschen lernt. Marx und Engels machen deutlich, dass der Mensch ursprünglich selber ein Tier war – und dies auch bleibt. Die Menschen haben jedoch durch gesellschaftliche Arbeit, durch die soziale Entwicklung von Produktion und Distribution, über die historisch-gesellschaftliche Evolution eine graduelle Differenz zu anderen Tieren geschaffen. In Marx’ und Engels’ Worten: „Man kann die Menschen durch das Bewusstsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.“ Marx und Engels fällt es gleichzeitig nicht ein, Tieren „die Fähigkeit planmäßiger, vorbedachter Handlungen abzustreiten“, wie Engels in Dialektik der Natur schreibt, „aber alle planmäßige Aktion aller Tiere hat es nicht fertiggebracht, der Erde den Stempel ihres Willens aufzudrücken.“ Der Mensch, ein Naturwesen, das natürliche Bedürfnisse wie Essen, Trinken usw. befriedigen muss, unterscheidet sich also nicht absolut, sondern graduell vom Tier, und der graduelle Unterschied ist das Ergebnis seiner eigenen politisch-ökonomischen sozialen Praxis.

IX.

Der historische Materialismus liefert uns damit einen fruchtbaren Ansatz für die Erklärung der Geschichte und Entwicklung des Mensch-Tier-Verhältnisses: Es ist das Ergebnis eines Zivilisationsprozesses, in welchem sich der Mensch durch die gesellschaftliche Arbeit aus der Natur herausarbeitet und damit den Unterschied zu nichtmenschlichen Tieren selber produziert. Anders als z.B. der poststrukturalistische Antispeziesismus kann der historische Materialismus den Dualismus von Mensch und Tier also nicht nur beschreiben, sondern erklären und mit der gesellschaftlichen Arbeit auch das Moment angeben, durch das er in der Praxis immer wieder hergestellt wird. Daraus folgt, dass die ideologischen Vorstellungen vom Tier aber nicht bloße Einbildungen sind, sondern auch tatsächlich wahr, insofern sie eine reale materielle Grundlage haben. Das speziesistische Denken über die Tiere ist also nicht die Grundlage der Tierausbeutung, sondern vielmehr deren ideologischer Reflex. Marco Maurizi hat das wie folgt auf den Punkt gebracht: „Wir beuten die Tiere nicht aus, weil wir sie für minderwertig halten, sondern wir halten sie für minderwertig, weil wir sie ausbeuten.“ Daraus folgt aber auch, dass wir nach der jeweiligen historisch spezifischen Form fragen müssen, in der dieses Verhältnis organisiert ist. Es gibt schließlich nicht die gesellschaftliche Arbeit, die den Zivilisationsprozess vorantreibt, sondern immer nur gesellschaftliche Arbeit in historisch besonderen Organisationsformen.

X.

Die politisch-ökonomischen Beziehungen nicht nur der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft, sondern auch ihrer Vorläufer, haben Klassen hervorgebracht, die sich antagonistisch gegenüber stehen. Der Konflikt zwischen ihnen, der sich aus ihren widerstreitenden Interessen ergibt, ist bis heute der Motor der historischen Entwicklung. Daher heißt es auch im Manifest der Kommunistischen Partei: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“

In der heutigen bürgerlich-kapitalistischen Klassengesellschaft basiert die Organisation gesellschaftlicher Arbeit im Kern auf zwei sozialen Verhältnissen: auf der Organisation der Arbeit über den Markt – Arbeitskraft ist eine Ware – und auf dem Klassenverhältnis: Im Produktionsprozess treten sich Arbeiter und Kapitalisten gegenüber. Letztere besitzen die Produktionsmittel (bzw. das nötige Kapital zu deren Erwerb), sie kaufen also Arbeitsmittel, Arbeitsgegenstände und Arbeitskraft (feilgeboten von Lohnabhängigen, die nichts als diese zu verkaufen haben) und setzen sie in der Produktion ein. Das Produkt nimmt wieder die Form der Ware an, die – mit Gewinn – verkauft wird. Dieser Gewinn, dessen Anhäufung Sinn und Zweck kapitalistischer Produktion ist, fällt allerdings nicht vom Himmel. Er kann nur dadurch erzielt werden, dass die Arbeiter ausgebeutet werden: Sie arbeiten über den Zeitpunkt hinaus, an dem sie ein wertmäßiges Äquivalent für ihren Lohn produziert haben; sie erzeugen damit einen Mehrwert, über den nicht sie, sondern die Kapitalisten verfügen. Kapitalisten, schreibt Marx im dritten Band von Das Kapital, bilden mit ihren Klassengenossen einen „wahren Freimaurerbund […] gegenüber der Gesamtheit der Arbeiterklasse“.

Da es also in der kapitalistischen Gesellschaft Ausbeuter und Ausgebeutete gibt, sind es entsprechend nicht die Menschen, welche die Tiere ausbeuten. Die Ausbeutung der Tiere und der Lohnabhängigen geschieht in erster Linie vielmehr im Interesse und unter der Leitung der herrschenden Klasse. Zwar unterscheiden sich die Ausbeutung der Tiere und der Lohnarbeiter qualitativ voneinander und letztere gehen, bloß weil sie ebenfalls Beherrschte und Ausgebeutete sind, nicht zwangsläufig ein solidarisches Verhältnis mit den Tieren ein. Schlachthofarbeiter töten sie ja sogar. Aber das kapitalistische Produktionsverhältnis beruht nicht nur auf einem Antagonismus zwischen Kapitalisten und der Arbeiterklasse, sondern auch zwischen der herrschenden Klasse und der Natur sowie den Tieren. Erstere ist es, die die industriell organisierte Tierausbeutung dirigiert und wesentlich von ihr profitiert. „Die Anschauung“, schreibt Marx entsprechend, „welche unter der Herrschaft des Privateigentums und des Geldes von der Natur gewonnen wird, ist die wirkliche Verachtung, die praktische Herabwürdigung der Natur.“ Dies schließt die Tiere natürlich ein. Um die Frage zu beantworten, weshalb im Kapitalismus nicht nur Arbeiter, sondern auf spezifische – von der Lohnarbeit sich unterscheidende – Weise auch Tiere ausgebeutet werden, muss untersucht werden, welche Stellung und welche Funktion den Tieren in dieser Organisationsform der gesellschaftlichen Arbeit zugewiesen wird, welches also die spezifisch kapitalistische Form der Tierausbeutung ist.

XI.

Tiere nehmen nicht unmittelbar eigenständig an den für den Kapitalismus charakteristischen gesellschaftlichen Beziehungen teil – sie kaufen und verkaufen nichts auf dem Markt, auch nicht ihre Arbeitskraft: Wenn sie im Produktionsprozess Arbeit verausgaben, erhalten sie dafür keinen Lohn. Entsprechend produzieren Tiere keinen Mehrwert und sind nicht Teil der Arbeiterklasse. Ihre Ausbeutung entspricht dem, was Marx als Ausbeutung der Natur bezeichnet: Kraft der bürgerlichen Eigentumsrechte und ihrer ökonomischen Verfügungsgewalt ziehen die Kapitalisten Profit aus dem ruinösen Umgang mit den Tieren und der Natur. Das ist keine Ausbeutung im werttheoretischen Sinne. Allerdings beschränkt auch Marx den Begriff der Ausbeutung nicht auf die Mehrwertproduktion. Und schon gar nicht fällt es ihm ein, aus der Feststellung, dass auch etwa die Sklaven keinen Mehrwert produzieren, zu schlussfolgern, ihre Exploitation sei nicht existent.

Wie andere Naturstoffe werden Tiere, da sie sich nicht organisiert zur Wehr setzen können, als frei verfügbare Produktionsmittel, d.h. als Arbeitsmittel (als wären sie Maschinen zur Produktion von Eiern, Milch, Fleisch etc.) und Arbeitsgegenstände (Leder, Fleisch zur Weiterverarbeitung etc.), angeeignet. Praktisch vollzogen wird diese teilweise offen gewaltvolle Aneignung durch lohnabhängige Arbeiter. Unter dem Kommando des Kapitals exekutieren diese die Mehrwertproduktion, zu der in der Tierindustrie das Töten und Melken sowie das Durchführen von Tierversuchen und dergleichen mehr gehört. Die Produkte, die von den Tieren produziert werden oder die sie als Ganze darstellen, werden von Lohnarbeitern weiterverarbeitet und anschließend als Waren verkauft. Die Profitproduktion basiert entsprechend nicht nur auf der Ausbeutung der Lohnarbeiter, sondern auch auf der der Tiere im Besonderen und der Natur im Allgemeinen. Zwecks Maximierung der mit der Tierausbeutung zu erzielenden Gewinne streben die Kapitalisten danach, Tiere möglichst effizient in den Produktionsprozess zu integrieren. Effizient heißt auch: unter Abstraktion von ihren Qualitäten, zu denen die Leidensfähigkeit gehört.

XII.

Aus all dem folgt für uns, dass nur ein historisch-materialistischer Antispeziesismus fähig ist, das Mensch-Tier-Verhältnis, das heute bei genauerer Betrachtung ein Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnis zwischen dem Kapital einerseits und dem Proletariat, den Tieren und der Natur andererseits ist, wirklich zu erklären und auch umfassend zu analysieren. Er öffnet dem Antispeziesismus die Perspektive für die Analyse und Kritik der bürgerlichen Klassengesellschaft, und er zeigt Hebelpunkte auf, an denen sie angreifbar ist und an denen man ansetzen muss, um die Tiere von der Ausbeutung zu befreien.

Zwar lässt sich aus der Kritik der politischen Ökonomie nicht schlussfolgern, dass Tiere in einer sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaft automatisch befreit werden. Allerdings sind der Kampf gegen die Herrschaft des Kapitals und dessen Enteignung eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Menschen überhaupt dazu in die Lage versetzt werden, kollektiv die politische Entscheidung zu treffen: Wir befreien die Tiere!

Solange das Kapitalverhältnis bestehen bleibt und mit ihm die Kontrolle der herrschenden Klasse darüber, was, wie und mit welchen Mitteln produziert wird, wird sich das Kapital die Natur einverleiben und alles in den Verwertungsprozess einspeisen, was sich nicht davor in Sicherheit bringen bzw. dagegen zur Wehr setzen kann.

 

WARUM DER MARXISMUS ANTISPEZIESISTISCH SEIN MUSS

XIII.

Für die Marxisten ist vieles dessen, was wir bisher gesagt haben, nichts Neues. Schließlich sind der historische Materialismus und die marxsche Kritik der politischen Ökonomie ihre „Geschäftsgrundlage“, die Richtschnur ihrer ökonomischen und politischen Analysen. Sie könnten jetzt also mit den Schultern zucken und zu den Tierbefreiern sagen: Gut erkannt, hört also mit dem Moralisieren auf und fangt an, mit uns den Kapitalismus zu bekämpfen. Und sie hätten gute Gründe dafür!

Wir meinen aber: Wenn man den historischen Materialismus ernst nimmt, dann muss man anerkennen, dass Mensch und Tier nicht nur eine gemeinsame Geschichte haben. Vor allem haben die unterdrückten, ausgebeuteten Klassen und die Tiere einen gemeinsamen Feind, der für ihre Ausbeutung verantwortlich zeichnet, von ihr profitiert und der – auf unterschiedliche Weise – ihre Unterdrückung organisiert: die herrschende Klasse. Und zudem müssen Marxisten zur Kenntnis nehmen, dass das
gegenwärtige Ausmaß der Tierproduktion aufgrund seiner sozialen und ökologischen Schäden objektiv irrational ist und dem gesellschaftlichen Fortschritt entgegensteht.

XIV.

Der gegenwärtige Stand der Produktivkraftentwicklung macht es nicht nur möglich, die Aufhebung des gesellschaftlich produzierten Tierleids zu denken und die Frage nach ihrer Berücksichtigung im Kampf um Befreiung zu stellen. Ein Blick etwa auf die CO2-Bilanz der Fleischindustrie oder ihren sinnlosen Verschleiß natürlicher Ressourcen zeigt auch, dass es dringend nötig ist, eine marxistische Position zum gesellschaftlichen Umgang mit den Tieren zu formulieren. Der Widerspruch von Kapitalismus und Natur hat heute ein Ausmaß erreicht, das die Fortexistenz der menschlichen Gattung überhaupt bedroht – und die industrielle Tierproduktion hat einen bedeutenden Anteil daran.

Objektiv ist die Ausbeutung der Tiere heute nicht nur unnötig, sondern irrational und antifortschrittlich. Sie sorgt für einen massenhaften und steigenden Verbrauch von etwa Wasser oder Soja, die nicht für sinnvolle Zwecke, sondern zur Produktion von Fleisch, Milch und Eiern eingesetzt, und erst recht nicht rational verteilt werden. Die ökologischen Schäden durch Rodungen von Regenwäldern, monokulturellem Anbau oder Wasserverschmutzung sind bereits heute zum Teil irreparabel. Wer also meint, die Fleischproduktion ignorieren oder sie sogar in einen sozialistischen Betrieb überführen zu können, sitzt jenem naiven und romantisierten Bild industrieller Lebensmittelproduktion auf, das die Lobbygruppen des Kapitals von ihr zeichnen. Der Umbau der Lebensmittel- und Fleischindustrie zu einer ökologisch nachhaltigen, veganen und gesellschaftlich geplanten Produktion wäre demgegenüber eine zeitgemäße sozialistische Forderung.

Dass die Nutzung und der Verzehr von Tieren einen bedeutenden Anteil an der menschlichen Zivilisationsgeschichte gehabt haben, ist bekannt. Daraus lässt sich jedoch nicht ihre heutige Fortführung ableiten: Die Produktivkräfte lassen es heute zu, nicht nur Anteilnahme am Leid auch der Tiere zu nehmen, sondern machen es auch möglich und notwendig, die Produktionsverhältnisse entsprechend umzugestalten. Und für Marxisten, das sollen diese Thesen zeigen, gibt es keinen vernünftigen Grund, dies nicht zu tun.
Die Tatsache, dass das technologische Potential des entfalteten Kapitalismus historischen Fortschritt möglich macht, darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch umfassende Zerstörung zulässt: Es birgt die Möglichkeit zur Befreiung und zugleich zur völligen Verdinglichung, Missachtung und Vernichtung des Lebens. Sollen die modernen Produktivkräfte keine Destruktivkräfte mehr sein, sondern Mittel zur Entfaltung von Fortschritt und Glück werden, müssen sich jene zusammenschließen, die daran ein gemeinsames Interesse haben. Sie müssen die sozialen Verhältnisse ändern, damit die Produktivkräfte nicht weiter für Gewinne einiger weniger, sondern zum Nutzen aller entwickelt und angewandt werden. Darum meinen wir: Die Marxisten und die Tierbefreier sollten sich im Kampf für ein revolutionäres, wahrhaft zivilisatorisches Projekt zusammentun – die Befreiung von Mensch, Tier und Natur.

XV.

Historische Materialisten gehen im Unterschied zu idealistischen Geschichtsauffassungen davon aus, dass der Klassenkampf und nicht die Ideen der Motor der menschlichen Geschichte ist. Ihm liegt zu Grunde, dass sich in Klassengesellschaften die Interessen einander antagonistisch gegenüberstehender Klassen niemals versöhnen lassen – der Antagonismus kann lediglich mithilfe von ideologischen Mechanismen, Religion, Politik, Recht etc., verschleiert bzw. latent gehalten werden. Dafür versucht die herrschende Klasse immer zu sorgen, etwa dadurch, dass sie ihre Ideen als herrschende Ideen durchsetzt.

So wie die Funktion von Tieren und Lohnarbeitern im Produktions- bzw. Ausbeutungsprozess sich qualitativ unterscheidet, unterscheidet sich auch die Rolle, die Tiere im Kampf gegen die herrschende Klasse einnehmen, von jener der Lohnarbeiter. Lohnarbeiter können sich organisiert zur Wehr setzen, Streiks und Demonstrationen planen oder über eine befreite Gesellschaft nachdenken. Vor allem aber können sie, im Gegensatz zu Tieren, die gesellschaftlichen Bedingungen analysieren, durch die sie zu Ausgebeuteten und Beherrschten werden, und daraus konkrete Schritte zur Organisation ihrer eigenen Befreiung ableiten. Die Arbeiterklasse kann daher das Subjekt ihrer eigenen Befreiung sein. Die Tiere können demgegenüber nur Objekt der Befreiung sein.

Traditionelle Marxisten führen diesen Unterschied zwischen Lohnarbeitern und Tieren oft ins Feld, wenn es um die Frage der Tierbefreiung geht. Eine historische Notwendigkeit zur Befreiung der Tiere, so ihr Argument, ließe sich aus einer systematisch reflektierten Gesellschaftsanalyse nicht ableiten. Das ist richtig: Tierbefreiung ist, was ihre Umsetzung betrifft, maßgeblich eine politisch-ökonomische Frage – ihre Notwendigkeit lässt sich nicht unmittelbar aus der Kapitalanalyse herleiten. Doch an diesem Punkt liegt kein bedeutender Unterschied zur Frage der Aufhebung der Lohnknechtschaft vor. Denn aus der Analyse des Kapitalverhältnisses und der Feststellung, dass der Klassenkampf die treibende Kraft der Geschichte ist, lässt sich ebenso wenig der organisiert geführte Klassenkampf von unten als historische Notwendigkeit ableiten. Auch diesen gibt es nur, wenn die Lohnabhängigen die politische Entscheidung treffen, ihn zu führen.

Revolutionäre Marxisten analysieren nicht bloß die moderne Produktionsweise. Auf der Basis ihrer Erfahrung, ihres Leidens, ihres Bewusstseins, das sie von der kapitalistischen Ausbeutung haben und ihres Wissens um die „materiellen Produktionsbedingungen, welche allein die reale Basis einer höheren Gesellschaftsform bilden können, deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist“, wie Marx schreibt, treffen sie die politische Entscheidung, für ihre Befreiung von der Unterjochung durch das Kapital zu kämpfen.

Wer einmal akzeptiert, dass Befreiung (überhaupt) notwendig ist, um gesellschaftlich produziertes Leiden und Ausbeutung zu beenden, der hat keinen Grund, die Tiere nicht in dieses Unterfangen einzuschließen – ausgenommen einen ideologischen. Die Analyse des Kapitalverhältnisses als zentrales Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnis der heutigen Gesellschaft zeigt, dass die Produktion kapitalistischen Profits nicht ausschließlich auf der Ausbeutung der Lohnarbeiter, sondern auch auf der der Tiere (und der Natur allgemein) beruht. Die kapitalistische Produktion, in der die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Natur nach Maßgabe der Profitmaximierung organisiert ist, untergräbt zugleich die Springquellen allen Reichtums: „die Erde und den Arbeiter“ (Marx). Der konsequente Kampf für die Aufhebung dieses Verhältnisses muss daher den Kampf für die Befreiung von Tieren und Natur einschließen.

XVI.

Ist also die Entscheidung für den Kampf um Befreiung einmal getroffen, gibt es keinen vernünftigen Grund dafür, einerseits alles zu unternehmen, dem gesellschaftlich produzierten Leiden ein Ende zu setzen, andererseits aber (nach Auffassung einiger Marxisten selbst noch im Kommunismus) die Tiere davon auszunehmen. Denn bei allen qualitativen Unterschieden zwischen der Ausbeutung von Lohnarbeitern und Tieren: die Leidensfähigkeit ist eine Eigenschaft, die Menschen und Tiere miteinander teilen – wenngleich sie stets unterschiedliche Formen annimmt. Es wäre inkonsequent und Ausgeburt falschen Bewusstseins, ausgerechnet entlang dieser Eigenschaft eine absolute Trennlinie zwischen Menschen und Tieren zu ziehen, die ihnen ungeachtet der historisch-gesellschaftlich entwickelten graduellen Differenz gemeinsam geblieben ist.

Viele marxistische Genossen wenden an dieser Stelle ein, das ganze Gerede über das Leiden sei doch Moralismus, und Moral sei nicht die Grundlage für klassenbewusste antikapitalistische Politik. Die Bourgeoisie bekämpft man schließlich nicht mit Empathie oder Appellen an das Mitleid, sondern mit einer Organisation und einer bewussten politischen Linie, die man auf Grundlage einer konkreten Analyse der konkreten Situation formuliert. Und das ist richtig, aber dennoch machen sie hier zwei Fehler: Sie verkennen den historisch-materialistischen Stellenwert des Leidens und verwechseln das genuine Vorhandensein von Moral mit bürgerlichem Moralismus.

Das Leiden, das wir hier meinen, ist keine idealistische, sondern eine historisch-materialistische Kategorie. Gemeint ist nicht Liebeskummer oder Zahnweh, sondern jenes Leiden, das notwendig in der Organisation der Gesellschaft, in ihren Produktionsverhältnissen gründet und dementsprechend auch gelindert perspektivisch abgeschafft werden kann und muss. Der Wille, eben dies zu tun, ist eine wesentliche Triebkraft des Klassenkampfes und der Solidarität – er gehört zum Glutkern des historischen Materialismus. Das Leiden in der marxistischen Theorie zu vernachlässigen, heißt daher auch einen bedeutenden Teil seines Fundaments zu negieren.

Auch Politik im besten marxschen Sinne ist zunächst moralisch motiviert. Denn wie wir dargelegt haben, ist das Leiden unter (Lohn-)Knechtschaft und Ausbeutung ein zentraler Beweggrund für die Suche nach Möglichkeiten, den Kapitalismus abzuschaffen. Die Erkenntnis, dass der Kapitalismus mit innerer Notwendigkeit Ausbeutung, Unterdrückung, Imperialismus und all das produziert, kurz: dass er Dinge hervorbringt, unter denen wir leiden, veranlasst Marxisten zur Gesellschaftsanalyse und -kritik und, auf deren Grundlage, zu revolutionärer Politik.

Wir können also festhalten: Auch die Marxisten treibt ein moralischer Impuls an, der unerlässlich für die Entscheidung zum politischen Handeln und auch die agitatorische Vermittlung politischer Botschaften ist. Nur bleibt es eben nicht dabei. Sie machen sich die politischen und ökonomischen Grenzen des Mitleids bewusst und nehmen die Leidenserfahrung zum Ausgangspunkt einer historisch-materialistischen Analyse der Gesellschaft. So wird die politische Notwendigkeit der gemeinsamen Organisation nicht ausschließlich aus einer kollektiven Leidenserfahrung der Ausgebeuteten hergeleitet, sondern aus der Erkenntnis, welche objektive Stellung Lohnabhängige im gesellschaftlichen Gefüge einnehmen – und welche Möglichkeiten des Klassenkampfes von unten sich dadurch bieten.

Das ist der Unterschied zwischen Moral und Moralismus: Revolutionäre Moral macht sich bewusst, dass eine „über den Klassengegensätzen und über der Erinnerung an sie stehende, wirklich menschliche Moral (…) erst möglich [wird] auf einer Gesellschaftsstufe, die den Klassengegensatz nicht nur überwunden, sondern auch für die Praxis des Lebens vergessen hat“ (Engels).

XVII.

Solange der Klassengegensatz nicht überwunden ist, wird auch die Entfremdung der Arbeiter vom Arbeitsprodukt, von sich selbst, vom gesellschaftlichen Produktionsprozess und von der Natur fortexistieren. In der Tierindustrie muss diese in einem extremen Maß bestehen, damit Lohnarbeiter überhaupt dazu in der Lage sind, anderen leidensfähigen Lebewesen im Produktionsprozess Schaden zuzufügen, sie industriell zu bearbeiten bzw. sie zu töten. Mit der kapitalistischen Ausbeutung der Tiere geht der Verlust des Bewusstseins über die essentielle Gemeinsamkeit mit dem Tier einher, einen quälbaren Körper zu besitzen, letztlich als Mensch auch ein Tier zu sein. Die Unterdrückung der inneren Natur des Menschen ist zugleich Bedingung und Resultat der kapitalistischen Organisationsweise der gesellschaftlichen Arbeit.

XVIII.

Wenn wir all das berücksichtigen, dann müssen wir auch festhalten: Genau jene Empörung, die wir angesichts der Brutalität des Kapitalismus empfinden und die uns zu einer marxistischen Analyse der Gesellschaft und zum Widerstand treibt, ist die gleiche, die auch die Aktivisten der Tierbefreiungsbewegung angesichts des Leidens der Tiere empfinden. Der Feind der Tiere – das Kapital – ist auch der Feind der Menschen. Wenn man Marxist ist, wenn man Antikapitalist ist, dann muss man diesen solidarischen Impuls zum Treibstoff seines Lebens machen, die objektive Stellung der Tiere im kapitalistischen Produktionsprozess erkennen und anerkennen, dass sie zu jenen geknechteten Wesen gehören, auf deren Rücken die herrschende Klasse ihren Reichtum anhäuft. Der Klassenkampf zur Befreiung der Tiere ist der Kampf zur Befreiung des Proletariats.