GESELLSCHAFTSTHEORIE, IDEOLOGIEKRITIK UND KLASSENKAMPF

„Eine Welt muss umgestürzt werden, aber jede Träne, die geflossen ist, obwohl sie abgewischt werden konnte, ist eine Anklage; und ein zu wichtigem Tun eilender Mensch, der aus roher Unachtsamkeit einen Wurm zertritt, begeht ein Verbrechen.“ (Rosa Luxemburg)

Unsere Gruppe, Tierrechts-Aktion-Nord (TAN), hat sich verändert. Sowohl unsere theoretische wie unsere praktische Arbeit ist nicht mehr die, die sie noch vor Jahren war. Damit haben wir einen Schritt aus der bestehenden Tierbefreiungsbewegung heraus gemacht, ohne mit ihr zu brechen. Der Name „Tierrechts-Aktion-Nord“ wird diesen politischen Absichten nicht mehr gerecht. Wir setzen unsere Arbeit daher unter dem Namen Assoziation Dämmerung fort. Für unsere FreundInnen ist das kein Grund zur Trauer, für unsere GegnerInnen keiner zur Freude: Wir bleiben dem Ziel der Befreiung von Mensch und Tier verpflichtet, aber unser Verständnis der Bedingungen des Streitens für dieses Ziel hat sich erweitert, und die personelle Zusammensetzung unserer Gruppe hat sich verändert.

25 Jahre für die Befreiung von Mensch und Tier

Seit Gründung von TAN ist ein viertel Jahrhundert vergangen. Die sehr bewegte Geschichte der ersten linken (autonomen) Tierschutzgruppe in Deutschland, die sich später als Tierrechts-, zum Zeitpunkt der jetzt anstehenden Transformation als Tierbefreiungsgruppe bezeichnet, begann mit einem losen Zusammenschluss: 1986 fanden sich vom Marsch durch die Institutionen ermüdete Tier- und UmweltschützerInnen – darunter Mitglieder von BürgerInneninitiativen gegen Tierversuche und der Grünen – sowie AnarchistInnen zusammen. Was diese Menschen einte, waren weniger gleiche politische Weltanschauungen und ein gemeinsames Theoriefundament als der Urimpuls jeglicher emanzipativer gesellschaftlicher Umwälzung und jeglichen Fortschritts: Ein großes Entsetzen und eine tiefe Betroffenheit über das unermessliche Leiden, das den Allerwehrlosesten in der nach sozialdarwinistischen Prinzipien geordneten kapitalistischen Gesellschaft widerfährt, und der unbedingte Wille, dieses Leiden zu beseitigen.

Am 24. April 1987 führten diese Menschen erstmals unter dem Namen Tierschutz-Aktiv-Nord (TAN) eine Aktion des zivilen Ungehorsams durch: AktivistInnen ketteten sich am Eingang einer Lufthansa-Filiale in der Hamburger Innenstadt an, um gegen Transporte von „Versuchstieren“ zu protestieren. Fortan radikalisierten sie ihre Praxis und leisteten Widerstand gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Massenmord an Tieren. Sie bildeten eine UnterstützerInnen-Gruppe der im Untergrund operierenden Animal Liberation Front (ALF), die damals in Deutschland noch unter dem Namen Autonomer Tierschutz (AT) agierte. TAN-AktivistInnen beteiligten sich zudem auch an sozialen Kämpfen, an Protesten gegen Diskriminierung von MigrantInnen, gegen Rassismus, Militarismus und Krieg.

Seit Einsetzen des durch den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und die Gründung der Berliner Republik ausgelösten Degenerationsprozesses weiter Teile der deutschen Linken sah – und sieht – TAN zudem die Notwendigkeit einer fundamentalen Ideologiekritik an deren kläglichen Restbeständen, vor allem an opportunistisch zu AntikommunistInnen gewendeten Ex-Linken, die sich zentralen Ideologemen des Neokonservatismus verschrieben haben.

Die Theoriearmut der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung als Schwachstelle erkennend fokussierte TAN ihr Engagement auf die Erarbeitung von Grundlagen für eine kritische Theorie zur Befreiung der Tiere auf Basis der Werke von Marx und Engels und der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Ein wichtiges Dokument dieser Entwicklung ist der Sammelband „Das steinerne Herz der Unendlichkeit erweichen: Beiträge zu einer kritischen Theorie für die Befreiung der Tiere“, der Vorträge einer 2006 organisierten Tagung enthält.

Dass sich im Nachvollzug dieser Theorien das Verhältnis des Menschen zu den Tieren, zur inneren und äußeren Natur als ein arbeitsvermitteltes und in der warenproduzierenden Klassengesellschaft historisch zu erkennendes offenbart, lieferte den Grundstock dafür, gesellschaftliche Kämpfe um Mensch, Arbeit und Natur nicht länger als nur irgendwie und teilweise ineinander übergehende zu denken, sondern sie auf ihren gemeinsamen Nenner zu bringen und auch als entsprechend vermittelte zu benennen. Politisch und theoretisch liegt genau darin die Chance, vom bloß subversiven Lebensentwurf zu einer praktischen Positionierung im gesellschaftlichen Gefüge zu kommen und von einer Szene zur politischen Bewegung zu werden.

Kritische Gesellschaftstheorie

Eine zeitgemäße Analyse und Kritik des gegenwärtigen Kapitalismus und seiner imperialistischen Ambitionen – das ist das Resümee aus unserer theoretischen Arbeit der letzten Jahre – kann auf eine Auseinandersetzung mit der von ihm gezeitigten Zerstörung der natürlichen Grundlagen alles Lebens nicht verzichten. Ebenso wenig wird irgendein Protest gegen diese Zerstörungen wirkungsvoll sein, wenn er sich der grundsätzlichen Kritik ihrer gesellschaftlichen Ursachen enthält. Die kapitalistische Gesellschaft kann den Produktionsprozess nur entwickeln, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und die arbeitenden Menschen.

Das ungebremste Wachstum der Produktivkräfte und dessen Verherrlichung, in der sich manche KommunistInnen kaum von ihrem kapitalistischen Klassengegner unterschieden, haben die Naturbeherrschung ins Unermessliche gesteigert – in den Staaten des real existierenden Sozialismus leider nicht weniger als in denen des real existierenden Kapitalismus. Blinder Technikfetischismus als Folge mechanistischer Geschichtsphilosophie und anthropozentrischer Naturverachtung muss im Angesicht der Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima, des Klimawandels und des industrialisierten Tiermords verworfen werden.

Doch auch die Ökologiebewegung hat den Fortschritt der globalen Aktiengesellschaft zur Ausbeutung der Natur keineswegs aufgehalten. Sie hat sie – leider – nur modernisiert. „Grüner Kapitalismus“ ist kein wirkliches Gegenmodell zum System blinder Naturbeherrschung, sondern kann im besten Fall nur eine Verlagerung seiner zerstörerischen Potenzen bewirken. Zu einer bewusst gestalteten – also nicht kapitalistischen – gesellschaftlichen Produktionsweise, die die Menschen und die Natur in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit respektiert, gibt es keine Alternative.

Auf theoretischer Ebene heißt das für uns, stärker an das revolutionäre, kämpferische Moment historisch-materialistischer Theorie anzuknüpfen, ohne das es eine kritische Theorie der Gesellschaft nie gegeben hätte. Wir wenden uns dabei gegen jeden Versuch, die Ideen der Frankfurter Schule gegen den revolutionären Impuls von Marx und Engels auszuspielen. Die Parteinahme für die Verdammten dieser Erde ist nichts, was der kritischen Theorie Adornos,
Horkheimers und Marcuses entgegensteht, sondern es sind gerade ihre Kämpfe, in und an denen diese Theorie zu formulieren und zu vermitteln ist; hier hat sie sich für die Erfahrung von Solidarität einzusetzen, in der verdinglichtes Bewusstsein aufgebrochen werden kann. Eine „kritische Theorie“, die von realpolitischer Intervention nichts wissen will und die theoretische Reflexion als Argument gegen klassenkämpferische Praxis missbraucht, ist keine.

Solange es Verhältnisse gibt, die geknechtete Wesen produzieren, ist es auch notwendig und möglich, von der Knechtung ausgehend diese Verhältnisse anzugreifen. Unsere Kritik zielt auf die kulturindustrielle Zurichtung der Individuen und ihre alltägliche Ausgrenzung, sei es durch neoliberale Bildungspolitik oder antimuslimischen Rassismus, ebenso wie auf ihren Einsatz als Kanonenfutter in imperialistischen Waffengängen. Dass unsere Kämpfe notwendig partikulare sind, heißt keineswegs, dass sie einer grundsätzlichen Gesellschaftskritik entgegenstünden – vielmehr ist daraus ein Imperativ abzulesen, auf welche Art und Weise diese Kämpfe zu führen und zu reflektieren sind. Historisch-materialistische Kritik hat am ganz konkreten Falschen ihren Willen zur Veränderung zu beweisen.

Wir weisen deshalb eine „kritische Theorie“ zurück, die nur indifferent und unkritisch zusieht und meint, das auch noch „Ideologiekritik” nennen zu dürfen. Kritische Gesellschaftstheorie sucht nach den Gründen für das Ausbleiben der Revolution, nicht nach Möglichkeiten, sie endgültig zu verhindern.

Revolutionäre Realpolitik

Als antikapitalistische Linke dürfen wir unsere Strukturen nicht zersplittern und uns letzten Endes organisatorisch vereinzeln lassen. Wir haben nur eine reale Chance, die Talfahrt der Linken und ihrer gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit zu drosseln, wenn wir dem Angriff der Herrschenden eine angemessene Antwort entgegensetzen können.

Diese lässt sich jedoch nur entwickeln, wenn wir in Fragen der Organisation und der Taktik keine starren Prinzipien verfolgen: eine reflexartige Abneigung gegen Parteien und Parlamentarismus ist, wenn auch in Teilen nachvollziehbar, ebenso prinzipalistisch wie herablassende Attitüden von untertänigen ParteisoldatInnen gegenüber selbständiger und selbstbewusster außerparlamentarischer Opposition. Wir entscheiden nicht a priori und unabhängig von politischen Konstellationen, ob eine politische Praxis richtig oder falsch ist. Genauso wenig prostituieren wir uns für jede noch so kleine Hoffnung auf einen pragmatischen Schritt in Richtung eines fernen Ziels, das am Horizont bereits nahezu verschwunden ist.

Ein-Punkt-Politik (,single issue‘), wie sie viele klassische autonome und andere außerparlamentarische Gruppen betrieben haben und immer noch betreiben, hat sich trotz einiger beachtlicher Resultate von sozialen Kämpfen sowohl theoretisch als auch praktisch als unzureichend herausgestellt. Theoretisch, weil ein gesellschaftliches Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnis wie das zwischen Menschen und Tieren nicht aus sich heraus, sondern nur im Rahmen einer kritischen Theorie der Gesellschaft zu analysieren und zu erklären ist. Praktisch, weil die unterschiedlichen Standpunkte, wie sie in der Gesellschaft existieren, in nahezu allen politischen Bewegungen wieder auftauchen und zu denselben Fraktionierungen führen. Die Grenzen verlaufen zwischen den Klassen sowie den Marginalisierten und ihren UnterdrückerInnen in der kapitalistischen Gesellschaft und nicht zwischen den individuellen Arbeitsschwerpunkten oder Vorlieben einzelner Akteure in der Politik. Entscheidend ist nicht, an welcher Stelle, sondern dass man hier und heute Widerstand gegen die Herrschaft des Kapitals aufbaut und leistet.

Die vorgeblich „linke Szene“, Tierbefreiungs-, Antifa- und Antira- oder Antisexismus-Gruppen stehen nicht automatisch für den Kampf um die Einrichtung einer befreiten Gesellschaft – teilweise im Gegenteil. Sie stellen für uns daher auch nicht mehr zwangsläufig einen positiven Referenzpunkt dar. Die Tierrechts- bzw. Tierbefreiungsbewegung verortet sich seit ihrem Bestehen in der undogmatischen Linken. In den seltenen Fällen, in denen sie sich überhaupt einmal politisch über das Mensch-Tier-Verhältnis hinaus positioniert hat, geschah dies in Form einer Abgrenzung von der Traditionslinken – als gäbe es kein wesentlich gravierenderes, als gäbe es nicht das zentrale Problem: Kapitalismus.

Die Tierrechts- bzw. Tierbefreiungsbewegung darf dieses fundamentale Problem nicht länger bagatellisieren. Sollte sie weiterhin nicht aus dem Bann bürgerlicher Ethik und nicht weniger bürgerlicher idealistisch-poplinker Diskurse heraustreten, so stellt dieses ein historisches Versagen dar, für das wir nicht (mehr) mitverantwortlich zeichnen wollen. Es reicht nicht, den Speziesismus (moralisch) als das falsche Denken zu verurteilen. Die Ursachen dieser mörderischen Ideologie müssen bekämpft – ihr muss die ökonomische Basis entzogen werden.

In diesem Sinne wollen wir künftig mit Veranstaltungen, eigenen Vorträgen und Stellungnahmen den gesellschaftlichen Diskurs dort zu beeinflussen versuchen, wo unsere Kräfte das erlauben. Wirkmacht können wir aber nicht allein entfalten. Weitere Schwerpunkte unserer Arbeit werden daher die Verbindung mit anderen Organisationen und der Aufbau von Netzwerken und Strukturen sein. Unsere potentiellen Bündnispartner sehen wir in emanzipatorischen Bürgerinitiativen, marxistischen Organisationen, Stadtteilgruppen, der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung, in Gewerkschaften, der Anti-AKW-Bewegung, antiimperialistischen Organisationen, linken Parteien oder der Friedensbewegung – solange dort die Spannung zwischen dem Ziel einer Transformation der Gesellschaft und konkreter Politik aufrechterhalten wird. Wir befürworten Bündnisse gegen Naziaufmärsche, aber nicht mit alten und neuen Konservativen, und wir sind für Korrekturen in Parlamenten, aber nicht mit den bellizistischen GenossInnen der Bosse und Erbfolgern Eberts, Noskes und Schröders. Wer diese Spannung revolutionärer Realpolitik nicht aushält, muss im Sektierertum oder als unkritischer Systemreformer enden.

Vorwärts zur Solidarität des Lebens

In diesem Sinne machen wir weiter auf neuen Wegen im Eingedenken unseres Ausgangspunkts: des Entsetzens über das Leiden von Menschen und Tieren in der unfreien Gesellschaft. Das Leiden ist der Inbegriff erfahrener Negativität, die nach nichts mehr drängt, als dass es aufhören möge. Es ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet und es zur Erkenntnis und schließlich zur tätigen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse treibt. Wir begreifen den Schmerz und die Qual der Unterdrückten daher nicht zuletzt auch als Motor des dialektischen Denkens, mit dem wir Ideologie entgegentreten, die wesentlich zwei Funktionen hat: Erstens die Rechtfertigung von Herrschaft und die Legitimation derer, die sie ausüben; zweitens die Verschleierung des Leidens, das sie produzieren. Daher gilt: „Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.“

Assoziation Dämmerung wird dem Urimpuls, der die Mitglieder von TAN seit einem viertel Jahrhundert eint, auf einer entwickelteren Stufe weiter folgen. Mit unserer Politik soll fortan einer bedeutsamen, alles andere als neuen, aber zu wenig reflektierten Erfahrung Nachdruck verliehen werden, die sich im Laufe der Jahre in unserem kollektiven Bewusstsein sedimentiert hat: Intuitive Erkenntnis des Leidens anderer allein ist ein stumpfes Schwert in einer Gesellschaft, in der das Recht nur als Recht des Stärkeren exekutiert wird. Daher lautet unsere Agenda heute mehr als damals, das Mitgefühl mit Hilfe der Erkenntnisse der aufklärerischen Wissenschaft des historischen Materialismus und des Aufbaus einer wirkmächtigen antikapitalistischen Bewegung politisch in die einst von Max Horkheimer geforderte „Solidarität des Lebens überhaupt“ zu übersetzen – die Voraussetzung und das Resultat der Versöhnung des Menschen mit seiner inneren und mit der äußeren Natur.

Assoziation Dämmerung

August 2011